BELARUS NEWS AND ANALYSIS

DATE:

29.07.2005

Geraubte Stimme

Gefangnis, Hausersturm, eine gefalschte Zeitung: Wie Wei?russlands Diktator die polnische Minderheit bekampft

Von Thomas Roser, Grodno

Rot weht eine Sowjetfahne hinter dem machtigen Lenindenkmal im Zentrum von Grodno im Sommerwind. Wie zu Breschnews Zeiten patrouillieren die allgegenwartigen Soldaten durch die blitzsauberen Stra?en der Stadt. "Was gibt's Neues in Warschau?", fragt unweit des Buros des wei?russischen KGB auf Polnisch der 29-jahrige Stanislaw. Derzeit wurde er auf Reisen in das nahe Nachbarland lieber verzichten, sagt der polnischstammige Wei?russe: "Wer wei?, ob man bei der Ruckkehr wieder einreisen darf."

Auf funf bis zehn Prozent wird der Anteil der polnischstammigen Bevolkerung in Wei?russland geschatzt. Allein in der 300000 Einwohner zahlenden Grenzstadt Grodno ist fast jeder vierte Bewohner ein Pole. Harte Zeiten hatten die Polen hier nicht nur wahrend der Schreckenszeit der deutschen Besatzung erlebt, sondern auch nach dem Krieg, seufzt die altere Dame, die nach der Abendmesse in der katholischen Kathedrale uber den Savetskaya-Platz spaziert. Ihr Bruder sei von den Deutschen erschossen worden, nach 1945 hatten die Sowjets "die gesamte Intelligenz" nach Sibirien verschleppt oder liquidiert. Erst zu Zeiten der Perestroika "und dank Gorbatschow" hatten die Polen in Grodno Ende der 80er Jahre wieder ihre Kirchen, Kloster und Schulen "von den Sowjets zuruckkaufen" durfen, erzahlt die Frau in dem blassgrunen Kostum: "Wir konnen nun unseren Glauben leben, unsere Sprache sprechen. Auch wenn es hier nicht so frei ist wie im Westen."

Tatsachlich geraten die Polen in dem 1991 unabhangig gewordenen Wei?russland in den letzten Wochen unter immer gro?eren Druck. Nie habe die polnische Minderheit "irgendwelche politischen Ambitionen" gezeigt, beteuert Jozef Porzecki, Vizevorsitzender des "Verbands der Polen in Wei?russland" (PZB): "Doch unser Einsatz fur die polnische Sprache und Kultur gilt hier bereits als Politikum." Gezielt versuchten die Behorden, den PZB zu zerstoren.

Wei?russlands autoritarer Prasident Alexander Lukaschenko hat seit seinem Amtsantritt 1994 die Opposition mundtot gemacht, die Gewerkschaften gleichgeschaltet, die unabhangige Presse geknebelt. Die nationalen Minderheiten lie? der machtige Mann in Minsk jedoch lange weitgehend unbehelligt, lie? den PZB mit Geldern aus Warschau gar zwei polnische Schulen eroffnen. Doch die Probleme der Minderheit begannen, als der PZB im Marz seinen mit dem Regime paktierenden Exvorsitzenden Tadeusz Kruczkowski abwahlte. Der Zorn des Minsker Autokraten trifft den neuen PZB-Vorstand nun mit voller Wucht.

Zwar hatte die Justiz fur die geplante Amtsbestatigung des Regimegunstlings Kruczkowski einige seiner Gegner rechtzeitig vor dem Wahltermin per Haft aus dem Verkehr ziehen lassen, darunter Jozef Porzecki. Doch selbst seine staatlichen Wahlhelfer konnten den wegen seiner mutma?lichen KGB-Mitarbeit restlos diskreditierten Funktionar nicht im Sattel halten. Nachdem die PZB-Delegierten statt Kruczkowski die Lehrerin Anzelika Borys zu ihrer neuen Vorsitzenden gekurt hatten, erklarte das Justizministerium im Mai die Wahl kurzerhand fur ungultig.

Dazu kommen seit Monaten willkurlichen Festnahmen von Fuhrungsmitgliedern des PZB, Drohungen und stundenlange Verhore sowie ein Trommelfeuer in den Staatsmedien. Nicht genug damit. Wahrend die Polen ihre Verbandszeitung in Wei?russland nicht mehr drucken und offiziell vertreiben lassen konnen, versucht der KGB mit gefalschten Ausgaben der "Glos znad Niemna" (Stimme von der Memel), in den Reihen der Minderheit Verwirrung zu saen. "Gebt den Polen ihre Stimme wieder", forderte das Plakat, mit dem die Redaktion der echten Zeitung Anfang Juli auf dem Leninplatz gegen den dreisten Titelklau protestierte.

Nur eine Minute wahrte die von der Miliz rude beendete Protestaktion. Die 2500 Dollar Strafe, zu der er danach verdonnert worden sei, seien fur ihn ein Jahresgehalt, sagt der Redakteur Andrzej Poczobut. Alle wichtigen Organisationen des Landes seien bereits gleichgeschaltet, "wir sind die gro?te, die noch bleibt", erklart der Journalist den Druck der Staatsmacht. Seit kurzem lasst der PZB die echte "Stimme" in Polen drucken und unter der Hand verteilen: "Ohne die Solidaritat Polens waren wir schon langst weg vom Fenster."

Lukaschenko aber scheint wild entschlossen, den PZB wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Nachdem am Dienstag Poczobut und Porzecki erneut verhaftet worden waren, sturmte die Miliz in der Nacht zum Donnerstag das "Polnische Haus" in Grodno, nahm mehrere Dutzend PZB-Aktivisten fest. Wahrend das staatliche Fernsehen den angeblichen Ausschluss von Anzelika Borys aus dem PZB verkundete, zog Lukaschenko-Gunstling Kruczkowski unter Polizeischutz am Donnerstagmorgen in den von KGB und Miliz streng abgeschirmten PZB-Sitz ein. "Verrater, Verrater", beschimpften emporte Demonstranten den selbst ernannten PZB-Chef.

Sanktionen gegen Wei?russland kundigte am Donnerstag der polnische Au?enminister Adam Rotfeld im eskalierenden Nachbarschaftskonflikt an und beorderte Polens Botschafter in Minsk nach Hause zuruck. Und unter Polens Minderheit macht sich angesichts der zunehmenden Repression mehr und mehr Ratlosigkeit breit.

Source:

http://www.tagesspiegel.de/dritte-seite/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/29.07.2005/1959627.asp#art

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