BELARUS NEWS AND ANALYSIS

DATE:

06/08/2008

Sommerschlussverkauf in "Europas letzter Diktatur"

Jurgen Neumann

Die wei?srussische Regierung treibt ein umfassendes Privatisierungsprogramm voran, die autoritare Staatsstruktur bleibt hiervon unberuhrt

Innerhalb der letzten Monate leitete die Fuhrung der Republik Belarus einen radikalen, wirtschaftlichen Kurswechsel ein. Das autoritar und zentralistisch von [extern] Prasident Alexander Lukaschenko regierte ostliche Nachbarland der Europaischen Union wird von westlichen Politikern gerne als "Europas letzte Diktatur" bezeichnet. Wei?russland ist aber auch - noch - das einzige postsowjetische Land, in dem Staatsbesitz die dominierende wirtschaftliche Eigentumsform darstellt und eine aus wilden Privatisierungen hervorgegangene Oligarchie nach russischem Vorbild schlichtweg nicht existiert. Der Anteil des privaten Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des osteuropaischen Landes macht gerade mal 25 Prozent aus, wahrend das Vermogen der reichsten Wei?russen nur in die Millionen, nicht aber in die Milliarden geht.

Doch diese Zeiten, in denen die Eigentumsverhaltnisse in der belarussischen Okonomie einer Miniaturausgabe derer der untergegangenen Sowjetunion glichen, scheinen sich endgultig ihrem [extern] Ende entgegen zu neigen. Kurzlich beschloss der belarusische Ministerrat ein ehrgeiziges Privatisierungsprogramm fur die Periode 2008 bis 2010, wahrend der insgesamt 519 Staatsunternehmen verau?ert werden sollen. Bereits in diesem Jahr sollen 176 Betriebe unter den Hammer kommen, darunter regelrechte Juwelen der wei?russischen Industrie, wie der Industriekonzern "Minsker Motorenwerke", oder das "MAZ"-Autowerk, in dem LKWs und Busse hergestellt werden.

2009 will sich der belarussische Staat von 200 Produktionsstatten trennen, darunter dem im gesamten postsowjetischen Raum beruhmten, Minsker Traktorenwerk oder den Fernsehgeratehersteller Vitsyaz. 2010 werden noch einmal 130 Betriebe abgesto?en. Bereits Mitte dieses Jahres wurde der belarussische Mobilfunkanbieter BeST an den turkischen Telekommunikationskonzern Turkcell fur 500 Millionen US-Dollar [extern] verkauft. Auch Bankenprivatisierungen stehen auf der Tagesordnung. Die deutsche Commerzbank soll das funftgro?te belarussische Bankhaus Belinvestbank ubernehmen, die osterreichische Raiffeisen International erwarb bereits die drittgro?te wei?russische Prior Bank.

Die wei?russischen Behorden versichern, dass der Privatisierungsprozess geordnet und stufenweise verlaufen werde, wodurch "wilde", unkontrollierte Privatisierungen verhindert wurden. "Die meisten Betriebsdirektoren haben Angst, die Kapitalisten aus Russland wurden alles aufkaufen. Doch wir werden so was bestimmt nicht zulassen", [extern] zitierte die Nachrichtenagentur "BelTa" die beim wei?russischen Staatseigentumsfonds tatige Beamtin Irina Barkowskaja. Demnach wurden in einer ersten Phase nur 25-prozentige Aktienpakete vom Staat feilgeboten und frei gehandelt. Ab dem 1. Januar 2009 konnen dann die Aktien von den Unternehmen frei gehandelt werden, in denen der Staat nur noch 50 Prozent der Anteile halt. Erst ab dem 1. Januar 2011 sollen alle diese Restriktionen ganzlich wegfallen.

Parallel zu dieser massiven Privatisierungsoffensive bemuht sich die belarussische Regierung um ein besseres "Investitionsklima" in dem knapp zehn Millionen Einwohner zahlenden Land. Neben der obig erwahnten stufenweisen Abschaffung der Einschrankungen beim Umlauf der Aktien, [extern] verwies der belarussische Ministerprasident Sergei Sidorski in einer Presseerklarung auf ein ganzes Ma?nahmenbundel: So wurde die Grundstucksvergabe an Investoren vereinfacht, die Registrierung und Lizenzierung von Unternehmen wurden beschleunigt. "Wir gehen davon aus, dass der Anteil von auslandischen Investitionen am Gesamtvolumen der Stammkapitalanlagen bei 15-20 Prozent liegen wird. Dabei sind wir in erster Linie an der Heranziehung der Direktinvestitionen interessiert", fugte Sidorski hinzu.

Die Chancen hierfur stehen nicht mal so schlecht: Laut einem Prasidialerlass vom Marz dieses Jahres gab der wei?russische Staat uberdies sein Recht auf die "Goldene Aktie" auf, mittels derer Behorden Einfluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen konnten. Dies wurde "die Rechte der belarussischen und auslandischen Investoren starkten", lie? die belarussische Botschaft in Washington [extern] verlautbaren. Schlie?lich werden auch in Belarus "freie Wirtschaftszonen" mit reduzierter Steuerbelastung fur die dort tatigen Unternehmen eingerichtet.

Sollten in Wei?russland kunftig tatsachlich die "Rechte von Investoren" geachtet werden, konnte die im Westen inflationar gebrauchte Formel von "Europas letzter Diktatur" schnell in Vergessenheit geraten. Schlie?lich scheuen weder Berlin, Brussel noch Washington engste Kontakte zu [extern] solchen Regimes, sobald dies ihren Interessen dient. Tatsachlich [extern] stiegen - von einem bescheidenen Niveau aus - bereits im ersten Halbjahr 2008 die Auslandischen Direktinvestitionen (FDI) in Belarus um 280 Prozent (gegenuber dem Vorjahreszeitraum) auf 233 Millionen US-Dollar. Mit 1,4 Prozent an der gesamten Investitionstatigkeit ist der Anteil der FDI noch gering, doch auch deutsche Wirtschaftsmagazine entdecken nun die "Terra Incognita" Belarus. So [extern] schrieb das Wirtschaftsmagazin Ost-West-Contact uber die neuen "Chancen fur deutsche Unternehmen" in Wei?russland, da laut Wladimir Augustinski, dem Leiter der Reprasentanz der Deutschen Wirtschaft in der Republik Belarus, der Investitionsstandort Belarus "besser als sein Ruf" sei:

Das Land blieb und bleibt mit dem Makel behaftet, dass es sich um eine der letzten Diktaturen in Europa handelt. Staatsprasident Alexandr Lukaschenko und sein protektionistischer Wirtschaftskurs mit schwierigen politischen und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen gelten als gro?e Investitionsbarrieren. Dass sich dies nun moglicherweise andern konnte, ist nicht nur dem neuen britischen PR-Berater Lukaschenkos zu verdanken, sondern auch einem wirtschaftsliberaleren Kurs der belarussischen Regierung. Diese hat zu Anfang des laufenden Jahres verschiedene Gesetze erlassen, die ein unternehmerisches Engagement fur auslandische Investoren erleichtern.Ost-West-Contact

Hintergrund der Privatisierung ist der "Energieschock"

Der erwahnte "PR-Berater" ist ubrigens Lord Tim Bell, der bereits den neoliberalen Pionieren Augusto Pinochet und Margaret Thatcher, sowie dem Oligarchen Boris Beresowsky ein freundliches "Image" verpasste. Ost-West-Contact benennt in dem Artikel auch die Ursachen fur diesen radikalen Kurswechsel Lukaschenkos mit dem nun eingeleiteten Ausverkauf der belarussischen Wirtschaft. Es waren die "Energieschocks" vom Ende 2006 und Anfang 2007, als Russland die vormals subventionierten Ol- und Gaspreise fur Belarus auf einen Schlag verdoppelte, die der Wirtschaft schwer zu schaffen machten. Nach heftigen Auseinandersetzungen um die Jahreswende 2006/2007, die zeitweilig den Erdgas-Transit nach Westeuropa zum Erliegen gebracht hatten, musste Minsk eine Anhebung des Preises fur Erdgas von 46 auf 100 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter hinnehmen. Zudem musste Belarus dem Verkauf von 50 Prozent des landeseigenen Gasversorgers Beltransgas an Gasprom zustimmen - dieser soll nun ganzlich in russisches Eigentum ubergehen.

Das beeindruckende Wirtschaftswachstum der Republik Belarus, das seit 2000 oftmals an die zehn Prozent erreichte und selbst 2007 noch 8,2 Prozent betrug, wurde durch die Einfuhr billiger russischer Energietrager gefordert. Russland bildet wiederum den wichtigen Exportmarkt fur die belarussischen Industrieguter. Bei einem Verbrauch von 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas jahrlich und 250.000 Barrel Erdol taglich belief sich - in Relation zu den Weltmarktpreisen von 2006 - die jahrliche Summe der russischen Subventionen auf 6,6 Milliarden US-Dollar. Hinzu kam, dass die taglichen Olimporte aus Russland um etwa 100.000 Barrel uber dem Konsum des Landes liegen. Dieses uberschussige Ol wurde in den Raffinerien des Landes weiterverarbeitet und mit Gewinn auf dem Weltmarkt verkauft.

Doch ab 2007 verdusterten sich die wirtschaftlichen Aussichten des Landes rapide. Die mit diesen Preiserhohungen einhergehenden Mehrbelastungen fur die belarussische Okonomie summierten sich auf 3,5 Milliarden Dollar in 2007. Schnell bildete sich ein enormes Handelsdefizit heraus, das allein zwischen Januar und Mai 2007 an die 1,45 Milliarden US-Dollar betrug. Inzwischen konnte das weitere Wachstum dieses vor allem gegenuber Russland entstandenen Handelsdefizits [extern] verlangsamt werden, sodass es von Januar bis Mai 2008 nur noch 845 Millionen Dollar betrug. Im gesamten Jahr 2008 soll das Defizit 1,4 Milliarden Dollar erreichen.

Zur Finanzierung dieser mit dem Defizit einhergehenden Verschuldung musste die weitgehend isolierte belarussische Fuhrung Kreditgeber suchen - und sie fand diese ausgerechnet in Kreml. Ende 2007 nahm Minsk einen [extern] Kredit in Hohe von 1,5 Milliarden US-Dollar in Moskau auf, Anfang dieses Jahres stand eine [extern] erneute Kreditvergabe zwischen Russland und Belarus auf der Tagesordnung. Mit diesem Geld wurde auch das im gesamten postsowjetischen Raum vorbildliche Sozialsystem der Republik Belarus weiter am Leben gehalten, das zur Legitimation der Herrschaft Lukaschenkos ma?geblich beitragt. Mit der wachsenden finanziellen Abhangigkeit der Republik Belarus von Russland hofft man im Kreml, endlich die ersehnte "Union" beider Lander erwirken zu konnen.

Moskau schwebt die Eingliederung Wei?russlands als eine weite Provinz in die Russische Foderation vor, wahrend Alexander Lukaschenko genau dieses Szenario zu verhindert trachtet. Deswegen hat westliches Kapital auch ganz gute Chance bei der Erschlie?ung dieser letzten postsozialistischen "Terra incognita" in Osteuropa. Die wei?russische Regierung will schlicht die westlichen Investitionen als [extern] Gegenbalance zum russischen Einfluss verstanden wissen.

Kapitalismus vertragt sich mit autoritaren Strukturen

Als der gro?e Verlierer dieser verspateten osteuropaischen Systemtransformation durfte einmal wieder die Bevolkerung hervorgehen, die sich auf einen massiven Verarmungsprozess gefasst machen darf. Wie in China und vielen anderen Landern vertragt sich auch in Belarus die Einfuhrung der kapitalistischen Wirtschaftsweise hervorragend mit der Beibehaltung autoritarer Strukturen. Selbst die paar armseligen Burgerrechte, die der aufziehende Polizeistaat den Burgern Deutschlands und der EU noch zugesteht, werden den Wei?russen vorenthalten. Beispielsweise bei der anstehenden Parlamentswahl im September: Inzwischen [extern] steht fest, dass die prowestliche Opposition des Landes ihre Wahlbeobachter in hochstens einem Drittel aller Wahllokale wird platzieren durfen. Deren vom Westen sorgsam geforderte Vertreter sind ubrigens angesichts des Kurswechsels Lukaschenkos - der so ziemlich genau das macht, was sie bestandig gefordert haben - ziemlich ratlos und fluchten sich in reichlich ungelenk klingende Oligarchenschelte. Auf der Webseite der Charta 97 [extern] hei?t es, der wei?russische "Sommerschlussverkauf" sei eine:

... unrechtma?ige und gro?flachige Privatisierung, durchgefuhrt von Lukaschenkos "Familie" und seinem inneren Kreis. ... Er [Lukaschenko - J.N.] hofft auf eine unkontrollierte Privatisierung mit der Hilfe zynischer Geschaftsmanner aus dem Westen und dem Osten. Au?erdem wird das belarusische Staatseigentum "unter Preis" verkauft, weil Lukaschenko das Geld braucht, um die auslandischen Kredite zuruckzuzahlen, die er in letzter Zeit in gro?er Quantitat aufnahm.

Charta 97

Sollte die belarussische Opposition weiterhin so gegen die "zynischen Geschaftsmanner aus dem Westen" agitieren, konnte sie bald ohne westliche Unterstutzung dastehen - und Lukaschenkos Belarus in der offentlichen europaischen Wahrnehmung einen ahnlichen Status erhalten wie all die anderen mit dem Westen kooperierenden autoritaren Staaten, die au?er einem sporadisch halbherzig erhobenen Zeigefinger kaum etwas zu befurchten haben.

Ironischer Weise muss Lukaschenko nun das vollfuhren, was zu verhindern er in den 90er Jahren antrat. Der ehemalige Kolchosendirektor kam als ein politischer Au?enseiter mit einem erdrutschartigen Sieg 1994 an die Macht, als er die wilden Privatisierungen und den regelrechten Absturz der belarussischen Okonomie zu beenden versprach, die im Verlauf des Zerfalls der Sowjetunion auch Wei?russland erschutterten. Lukaschenko hielt Wort und konnte sich trotz der zunehmend repressiven Regierungsform einer breiten Unterstutzung sicher sein: Lohne und Renten wurden punktlich ausgezahlt, die Privatisierungen gestoppt, ein umfassendes Sozialsystem verhindert (noch) die Verarmung der Bevolkerung. Der von Lukaschenko geformte "Marktsozialismus" wurde von gro?en Teilen der Bevolkerung mitgetragen, wie auch die New York Times [extern] eingestehen musste. Doch im Gegensatz zu 1994, wo sich die Mehrheit der Belarussen in freien Wahlen fur ein Ende des kapitalistische Experiments aussprach, wird die Bevolkerung bei der nun eingeleiteten kapitalistischen Systemtransformation sicherlich nicht nach ihrer Meinung gefragt werden.

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28458/1.html

Source:

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28458/1.html

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