BELARUSIAN HISTORICAL REVIEW


Volume 3 Fascicle 2 (December 1996)

History as a sequence of disasters. Belarusian region as an occupied society: 1939-1944/47

Bernhard Chiari

Der Zweite Weltkrieg atomisierte die multiethnische Gesellschaft der BSSR und reduzierte das wirtschaftliche und kulturelle Leben auf seine primitivste Form. Die menschlichen und materiellen Verluste der Besatzungszeit und die beinahe vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerungsruppe setzen einen Prozeß fort, der bereits zwischen 1939 und 1941 vor allem den westlichen Teil der BSSR erfaßt hatte. Im Rahmen der Sowjetisierung waren durch Deportationen, Kadertransfer, Umgestaltung der Wirtschaft sowie die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs für die Angehörigen der neuen sowjetischen Administration traditionelle gesellschaftliche Milieus zerschlagen worden. Der angehäufte soziale Zündstoff schränkte nach dem deutschen Einmarsch die Fähigkeit zum Widerstand ein. Die für die Phase der Sowjetisierung zu beobachtende "Privatisierung des Staates" (Jan Gross). d.h. der unkontrollierbare Machtgewinn Einzelner im Verlauf eines Gleichschaltungsprozesses, vollzog sich seit dem Sommer 1941 mit zunehmender Intensität. Die Befriedigung persönlicher Interessen und das Begleichen alter Rechnungen wurden durch den Umstand begünstigt, daß die Aktionsmöglichkeiten der deutschen und weißrussischen Zivilverwaltung gegenüber dem allgemeinen Terror von SS, Polizei und SD im Kriegsverlauf immer weiter abnahmen. Der deutsche Herschafts-und Ausbeutungsapparat bediente sich solcher Mechanismen, die soziale und ethnische Gruppen gegeneinander ausspielt. Die nationalsozialistische Jüdenvernichtung, die sich in den teils mehrheitlich von Jüden bewohnten Städten und Dörfern direkt vor den Augen der nichtjüdischen Nachbarn vollzog, wurde zum traumatischen Schock für alle Einwohner der besetzten Gebiete. Die weißrussische Selbstverwaltung und die einheimische Polizei als Repräsentanten der Besatzungsmacht stellten die Bindeglieder zwischen Herrschern und Beherrschten dar, wurden aber selbst immer mehr in eine Spirale von Haß, Angst, Terror und Gegenterror miteinbezogen. Die solcherart vorangetriebene Zertrümmerung der Kriegsgesellschaft führte zur Trennung der Peripherie vom Zentrum, der Städte von den Dörfern, der Polen von den Weißrussen oder der im Lande verbliebeben bzw. aus dem Exil zurückgekehrten kleinen Funktionärschicht von der übrigen Bevölkerung. Militärische Auseinandersetzungen nicht nur mit der erst langsam erstarkenden sowjetischen Partisanenbewegung, sondern auch mit polnischen und anderen Formationen eskalierten 1943/44 zu einem allgemeinen Bürgerkrieg. Für die Bevölkerung wurde es unmöglich, durch neutrales Verhalten das eigene Überleben zu sichern. Die Vorgänge der Besatzungszeit auf lokaler Ebene, die Auswirkungen der Sowjetisierung 1939-41, die Funktion der einheimischen Selbstverwaltung und ihr Zusammenspiel mit den deutschen Behörden, die Überlebensstrstegien innerhalb unterschiedlicher sozialer Milieus, die Verstrickung der weißrussischen Polizei, aber auch von Teilen der weißrussischen und polnischen Bevölkerung an Ausbeutung und Terror sowie am nationalsozialistischen Jüdenmord stellen nach wie vor Forschungsdesiderata dar, die nur mit den Methoden der Sozial- und Alltagsgeschichte ausgefüllt werden können.


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